Kursbuch   52

   1978                  

 


Utopien I                                 Zweifel an der Zukunft

 

H. M. Enzensberger, Bemerkungen zum Weltuntergang

B. Kirchhoff, Body-Building - Versuch über den Mangel

Marina Moeller-Gambaroff, Utopie der Treue

Klaus Binder; Zur Praxis der Wünsche

Brigitte Wormb, Schattenreise nach Marbach am Neckar

Kohoutek/Pirhofer, Blinde Fenster

Herdt / Holl,  Ideen zur traurigen Utopie des Subjekts

Rainer Dorner, Tu was du willst

Cora Stephan, »Wir pfeifen auf den Fortschritt« 

W. Gottschalch, Die Fesseln der Vergangenheit

 

Kursbogen: Hammer und Sichel

 

Kursbuch/ Rotbuch Verlag                              8 Mark

 

 

 

 

 

Ludwig Herdt/Günter Holl

Ideen zur traurigen Utopie des Subjekts

EINE LIEBESERKLÄRUNG AN DEN EMOTIONALEN UNTERGRUND

 

I.

 

"Doch Abraham glaubte und glaubte für dieses Leben. Ja, hätte sein Glaube bloß für etwas Zukünftiges gegolten, dann hätte er wohl leichter alles wegwerfen können, um aus dieser Welt herauszueilen, der er nicht zugehörte. "

(Sören Kierkegaard)

 

Utopie verhält sich zum wissenschaftlich institutionellen Alltag wie Karneval zum bürgerlich politischen:

Am Aschermittwoch ist alles vorbei. Wer allerdings, wie Garance in Les enfants du paradis, seinen Abschied aus der bürgerlichen Burleske nimmt, indem er sich unmittelbar der Totalität des öffentlichen Wahnsinns aussetzt, der die Szene des Pariser Straßenkarnevals unter der Maske ausgelassener Heiterkeit beherrscht, sollte sich nicht auf eine bereitstehende Karosse und weniger noch auf den utopischen Topos des Reisens verlassen. Wenn aber selbst Utopie niemals einen Ausweg versprechen konnte, dann darf es auch dem Zyniker nicht in den Sinn kommen, ihrer zu spotten, da er sich doch von Narren umgeben weiß.

Das Faible für Utopien wird von der öffentlichen Meinung mit der Aura des Großartigen umgeben. Kaum je versäumt man es in einer Laudatio auf Dissidenten, ihm den gebührenden Rang einzuräumen. Darin deutet sich an, daß es nicht schwerer ist, im falschen Leben das richtige zu propagieren, als die rückhaltslose Unterwerfung unter das Realitätsprinzip verbindlich einzufordern. Zwischen beiden Bestrebungen der Verwirklichung des Möglichen scheint zwar eine qualitative Differenz zu klaffen, die sich einerseits aus dem ambulanten Handel mit hausgemachten Idealen, andererseits aus der Angst vor Verschwendung erklärt. Beide gehen aber Hand in Hand, und der inflationäre Ausverkauf des Neuen ist nicht besser als das Verschachern aufpolierter Antiquitäten unter dem Gütesiegel der Solennität. Ob die beste aller Welten nun sein könnte, ist oder war; immer berühren sich Utopie und Geschichte in ihrem Anspruch auf Harmonie. Diesem zu mißtrauen, Möglichkeiten eröffnen zu wollen, ohne neue Wirklichkeiten im Blick zu haben, gebietet nicht nur die Lust an den Widersprüchen des Gegenwärtigen, sondern auch die gewitzigt ideologiekritische Einsicht, daß die positiven Utopien in ihrer Moralität, Sauberkeit und Ordnung immer dem bloß Wirklichen verschwistert waren. Mit den Marxschen Thesen zu Feuerbach wurde der philosophische Utopiegedanke des freien Spiels der Möglichkeiten für diejenigen, denen sich Geschichte als Entwicklungsprozeß darstellt, aus seinen bildlich verfestigten Modellen herausdestilliert, als Potential der Kritik desavouiert und der Geschichte überantwortet. Sein pragmatisches Residuum bleibt nur noch zur Perfektionierung sozialtechnologischer Systementwürfe oder zur Schmähung des politischen Gegners am Leben. Vielleicht sollte man dem radikalen, sich der Finalität entziehenden Utopiegedanken zumindest die Ehre erweisen, ihn vor der Vereinnahmung durch das politisch pragmatische Denken zu bewahren. Er antizipiert oder rekonstruiert nicht die scheinbare Freiheit der geschichtslosen Harmonie aller historischen Kräfte, sondern ist Ausdruck der aktualen Selbstverliebtheit des in seinen Möglichkeiten sich selbst transzendierenden Denkens.

Man wird diesem spekulativen Ansatz zwar zugestehen, daß er ein Potential des Widerstandes enthält, ihm aber aus dem heutigen Geschichtsbewußtsein heraus nicht den Vorwurf ersparen, er bekümmere sich nicht um Perspektiven oder alternative Modelle. Solcher Verzicht wird leicht mit einem bequemen Bekenntnis zur Ohnmacht des Intellektuellen verwechselt; er hält aber konkret an einer unabdingbaren Voraussetzung alles utopischen Denkens fest, die in programmatischen Utopien nur als Abstraktum angelegt ist: die Liebe zu etwas Gegenwärtigem. Chesterton sagt:

"Angenomrnen, wir fänden uns etwas Trostlosem gegenüber - etwa der Örtlichkeit Pimlico. Wenn wir uns überlegen, was wirklich das Beste wäre für Pimlico, so werden wir bemerken, daß der Gedankenfaden zum Mystischen und Willkürlichen führt. Es genügt nicht, daß Pimlico jemand mißbilligt: in diesem Falle wird er sich einfach die Kehle durchschneiden oder nach Chelsea umziehen. Noch genügt es andererseits, wenn jemand Pimlico anerkennt: denn dann wird Pimlico bleiben, was es ist, und das wäre schrecklich. Der einzige Ausweg scheint zu sein, daß jemand Pimlico liebte: daß er es liebte mit transzendentaler Bindung und ohne jeden irdischen Beweggrund. Wenn ein Mensch aufstünde, der Pimlico lieben würde, dann stiege Pimlico empor und bekäme elfenbeinerne Türme und goldene Zinnen; Pimlico würde sich putzen, wie eine Frau es tut, wenn sie geliebt wird."

Muß aber diese mystische Liebe nicht, wie etwa bei Sartre, über existentialistische Furcht in politische Wut münden? In seinem Himmelsschlüssel entlarvt Kolakowski sowohl den mystischen als auch den existentialistischen Zugang zur Welt als Merkmale der autoritären Persönlichkeit und fordert am Beispiel der Versuchung Abrahams - »Abraham trägt die Verantwortung für die Staatsraison« - die Utopie des antiautoritären Stammvaters der Juden.

Es ist keineswegs sicher, ob Kolakowski das Hauptproblem nach den weltweiten Erfahrungen der Studentenbewegung und ihrer Folgen noch immer in dem Herrschaftsverhältnis zwischen den beiden Protagonisten, Gott und Abraham, sehen würde. Seine Auseinandersetzung mit Kierkegaard provoziert, wird sie zuende gedacht, eine zeitgemäße Alternative zu der biblischen Schilderung des Brandopfers: Abrahams persönlicher Gott stellt sich für Isaak nur noch als abstrakteste anonyme Gewalt dar, die allein unter dem Aspekt ihrer Personalisierung eine Gegenwehr zuläßt, und es muß für die programmatischen Utopisten heißen: Nun, mein lieber Isaak, entreiße diesem alten Mann das Messer, tu einen Probemord an dem Widder, den Gott deinem Vater Abraham als Ausweg schickte, und stoße es deinem Alten durch die Rippen; denn das Neue ist das Überwältigen des Alten. Du mußt durch Blut waten, aber vor dir wird sich auftun der Zeittunnel, der dich ins gelobte Land bringt und alle Häscher hinter dir zurücklassen wird; denn die taugen nur zum aktiven Gehorsam, nicht aber zum Untertunneln der Zeit.

Diese ironische Verkehrung eines biblisch berichteten Ereignisses könnte für den Geschichtstheoretiker die gleiche ästhetische Plausibilität seines inneren Zusammenhangs mit der Vorgeschichte beanspruchen, wie sie die Geschichtsschreibung für ihre tatsächlich behaupteten Tatsachen, Ereignisse, Strömungen und Epochen reklamieren muß. Diese Plausibilität hat Utopie, als theoretisches Konstrukt, der Geschichte voraus. Als historisch verwendete Kategorie - der ou topos der unbesetzte Ort - wird sie auf das Neue in der Zukunft, auf den Ursprung in der Vergangenheit oder das Außenliegende, Unentdeckte projiziert, stellt sich aber dar als das ungschichtlich Einzigartige, das von Geschichte immer wieder eingeholt, integriert wird, jedoch als Möglichkeit in ihr niemals aufgeht: Utopie als paradoxale metaphysische Bedrohung für die Möglichkeit von Geschichte selbst.

Die Geschichtsschreibung, ob sie sich idealistisch, realistisch oder materialistisch vorentscheidet, läßt aber das Paradoxe nicht zu. Für sie ist die Strömung des historisch Geschehenen orthodox durch immer wieder neu befestigte Grenzen vom Meer des Offenen geschieden, sonst verflösse ihre Geschichte ins Nichts des nur Möglichen oder zufällig Gewordenen. Zufall und Notwendigkeit, Sinnlosigkeit und Sinn, Außen und Innen, aber auch Anfang und Ende der Strömung erzeugen und determinieren diese nicht, sondern sind aus ihr abstrahiert, lassen sich aus ihr abstrahieren.

In ihrer höchsten und schlechtesten Abstraktion zugleich stellt sich Geschichte dar nicht als eine von Bewegungen sondern von Institutionen. Versucht man, Geschichte gegen diese starre Abstraktion wie ein gläsernes Gefüge zu durch-schauen auf der Suche nach den in ihr nicht erstarrten Möglichkeiten, so wirken die darin immer dichter werdenden Institutionen wie ein System von Prismen, das in seiner Geschlossenheit ein Vexierbild von Versprechen und Versagung entstehen läßt, sich aber nicht zu einem bunten Kaleidoskop offener Konstellationen vervollständigt. In diesem Bild erscheinen die noch nicht verwerteten Möglichkeiten nur negativ, als ein Schatten, der sich in seiner uneinholbaren, aber vom Sog der Institutionen bedrohten Aktualität noch in seinem Verschwinden jeglicher Geschichtlichkeit sperrt. Dem entspricht, daß die Institutionen in ihrer imperialen Realität keine Geschichte zulassen oder konstituieren, sondern ihre Legitimation aus der Assimilierung des jeweils Möglichen ableiten. Institutionen lernen nicht; sie usurpieren verwaltend das Gelernte.

Es mag der Anschein entstehen, daß dieses tote Totum von Aktualität und Realität, in dem Geschichte immer nur als mögliche oder gewesene, niemals aber als sich vollziehende denkbar ist, allein das Produkt ontologischer Sophisterei sein könne. Dieser Eindruck würde sich aber nur dann bestätigen, wenn es in den Möglichkeiten dieses Totums läge, seine eigene Realität nicht nur zu reproduzieren, sondern sich zum Offenen der Bewegung, zum Neuen als der eigenen Krisis hin zu transzendieren. Indem jedoch die Realität sich das Mögliche zur Komplettierung ihres institutionellen Charakters einverleibt, während das scheinbar Offene bereits auf diese Funktion hin vorstrukturiert ist, treibt die in allen programmatischen Utopien postulierte Transzendenz des Feststellbaren nicht über dessen Totalität ins Neue hinaus; vielmehr dient sie der Realisierung des Möglichen und der Perpetuierung des Realen zugleich. Das Feststellbare an Geschichte ist nur der Fortschritt als immanent gewordene Institutionalisierung von Transzendenz.

Begnügt man sich aber nicht mit diesem dürren Koordinatensystem, in dem das Verhältnis von verbrauchten und noch offenen Möglichkeiten als das Maß des Fortschritts gilt, dann wird die Möglichkeit von Geschichtsbewußtsein selbst zu einer Utopie, weil es weder davon lebt, sich affirmativen Urteilen a priori anzuschmiegen, noch dazu genötigt ist, die selbst zur Institution gewordene Geschichte in ihrer eindimensionalen Perspektive anzuerkennen. Logisch gesehen zerfällt Geschichte ohne das Korrektiv einer Zielvorstellung wie der einer programmatischen Utopie in einen reinen Atomismus der Ereignisse oder in ihre übergangslose Kontinuität, deren antinomischer Charakter sich ausdrückt in Sätzen wie >Die Sonne ist neu an jedem Tag< und >Es geschieht nichts Neues unter der Sonne<. Beide Formulierungen lassen in ihrer radikalen Allgemeinheit für das Subjekt keinen Raum. Sie bilden jedoch die äußersten Pole, zwischen denen sich die emotionale Basis für jede Form von Geschichtsbewußtsein herausbildet. Dabei zwingt der von den Institutionen ausgehende Leidensdruck den einzelnen, beide Setzungen negierend, der Geschichte Ziele vorzugeben, sich prognostisch zu ihr zu verhalten, und erzeugt damit aus sich heraus, was Theodor Lessing als »Sinngebung des Sinnlosen« bezeichnete. Was zur Erklärung und Interpretation von Geschichte nötigt, ist die Erfahrung ihrer Irrationalität. Aus diesem interpretatorischen Zirkel von erfahrener Irrationalität und rationaler Erklärbarkeit konstituieren sich sowohl Geschichte als auch das subjektive Bewußtsein von ihr immer wieder neu. Der utopische Gedanke entsteht zusammen mit der Idee, Geschichte sei etwas rational Kritisierbares. Indem aber das Subjekt sich in seiner Kritik an Geschichte nicht nur deren, sondern auch seines eigenen Unvermögens bewußt wird, projiziert es die Möglichkeit einer rationalen Versöhnung auf einen ou topo, in dem sich beide wechselseitig definieren und aufheben. In dem Maße, wie sich das historisch Gewordene als ein Totum von Institutionen zu verselbständigen und gegenüber seinen Möglichkeiten abzudichten scheint, entfernt sich der utopische Gedanke von der Vorstellung der unmittelbaren Grenzüberschreitung und kann sich die Dimension der Totalität aller in der Geschichte eingesperrten offenen Möglichkeiten erschließen.

Die Faszination der Utopien scheint demnach unter dem Aspekt des subjektiven Geschichtsbewußtseins nicht aus der Irrationalität von Geschichte selbst, sondern aus der Spannung von institutionalisierter Ordnung und offenen Möglichkeiten herzurühren. So sehr diese Spannung geeignet ist, die besonderen Charakteristika jeder einzelnen Epoche zu beschreiben, so wenig läßt sie sich dazu verwenden, die Vorstellung der Einheit von Geschichte aus sich selbst heraus zu legitimieren. Ein Modell, das dieses Verhältnis von Statik und Dynamik der Geschichte mit Bezug auf ihre objektive Realität und ihr subjektives Erleben konsequent beschreibt, findet sich in der Leibnizschen Monadologie:

"Und wie eine und dieselbe Stadt, die von verschiedenen Seiten betrachtet wird, als eine ganz andere erscheint und gleichsam auf perspektivische Weise vervielfacht ist, so geschieht es in gleicher Weise, daß es durch die unendliche Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebenso viele verschiedene Universen gibt, die jedoch nur die Perspektiven des einen einzigen gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade sind. Dies ist das Mittel, um so viel Mannigfaltigkeit als möglich, jedoch verbunden mit der größtmöglichen Ordnung zu erhalten, das heißt, es ist das Mittel, um so viel Vollkommenheit zu erhalten, wie es geben kann."

Wenn man, wie Leibniz, die innere Struktur der Geschichte als ein statisches Gebäude sich selbst überläßt, bezieht sie ihre Dynamik nur aus der Erfahrung der unendlich vielen einzelnen. Die Verbindlichkeit jeder einzelnen Erfahrung wird zum Gegenstand der Kontemplation. Diese Auflösung der Aporien von Geschichte deutet selbst schon eine Utopie an: Leibniz bezieht einen Standort noch jenseits von Gott und der Welt, er bekümmert sich aber auch um den Hund, der um Wallensteins Lager streicht. Die Utopie der Leibnizschen Monaden kommt in der Identität von Individual-und Weltgeschichte zum Ausdruck, »daß alles, bis hin zu den eitlen Worten und bis zu einem in rechter Weise verwendeten Becher Wasser, in Rechnung gestellt wird«.

Erleidet man aber Geschichte, wie zuerst Anton Reiser einbekennen durfte, dann wird die prästabilierte Harmonie zur Schimäre, ihre Starrheit löst sich nicht mehr in der Erfahrung des einzelnen auf, sie wird als »Vorrang des Objekts« zur Bedrohung. Wer in den Zwängen der geschichtlichen Realität steht, sich ihr nicht von außen nähern kann, wer den Ausnahmefall dessen, der sein ganzes Leben kontemplativ betrachtet, nicht nachzuvollziehen in der Lage ist, der steht unter einem Bann. Das bedeutet: Seine >Selbstverwirklichung< erfolgt nur von der Individualgeschichte seines Verhältnisses zu den Institutionen her. Die irrige Annahme, in der Entgegensetzung von Freiheit und Notwendigkeit bilde sich Geschichtsbewußtsein, ist selbst erst das Ergebnis einer in ihrer Immanenz verstrickten Interpretation von Geschichte. Es ist das Ausgeliefertsein an die Geschichte und ihre Institutionen, das als letzte Rettung noch die »Verräumlichung« der Zeiterfahrung - Anfang und Ende, Außen und Innen - übrig läßt. Unter diesem Aspekt der Gegenständlichkeit von Geschichte, des Absolutheitsanspruchs ihrer Immanenz, lauten die Fragen nicht mehr: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« (Kant), sondern: wie kann ich überhaupt Subjekt werden? Die Diagnose Adornos, das von der Aufklärung erhoffte Subjekt habe in der Entwicklung des Kapitalismus die Möglichkeit der Selbstverwirklichung verloren und könne nur noch als verkrüppeltes Einzelwesen in der Soziologie und Psychologie auftauchen, ist ernst zu nehmen, jedoch mit der realen Möglichkeit, die Adorno auf den Bereich der Kunst eingeschränkt sehen wollte: Daß das Subjekt trotz seines Ausgeliefertseins an Geschichte und Institutionen im einzelnen aufscheint, gerade weil dieser sich dafür nicht mehr den Titel des autonomen Individuums anheften muß.

In den Gravitationsfeldern der Institutionen, die zunehmend mehr die Individualgeschichte bestimmen und einen geschichtlichen Fortschritt der gesamten Gattung vortäuschen, wäre das Hohelied auf eine sich widersetzende, unorganisierte Subjektivität oder eine unkalkulierbare Spontaneität nur die Verherrlichung von Fluchtreflexen derjenigen, die um ihre subjektiven Fähigkeiten betrogen werden. Die Philosophen nach Hegel haben die Möglichkeit einer Aussöhnung von einzelnem und Institutionen untersucht und in Form von Antinomien, Paradoxien und Aporien letztlich zum tolldreisten Bravourstück erklärt. Mancher Praktiker geriet über der Vollführung dieser Heldentat mit seiner ritterlichen aber traurigen Gestalt in die Windmühlenflügel. Was aber selbst noch bei den loyalsten Dienern der institutionalisierten Realität als Moment der Restituierung des Subjekts sich einstellt, was sich aufblitzend anderen mitteilt, obwohl die aufgeklärte Bürgertheorie vom autonomen Individuum zu keiner Zeit Muße und Ellenbogenfreiheit des Denkens oder Handelns versprechen konnte, soll hier beschrieben werden: Eine Utopie gegen die Geschichte, eine subjektive Wahrheit des einzelnen in den Zwischenräumen der Institutionen, die nicht reale Freiräume, sondern begrifflich nicht mehr zu analysierende Lücken in der großen Möglichkeitsverwurstung der Institutionen sind. Bilder aus der Literatur müssen ersetzen, was sich zwar nicht der rationalen Erklärung, wohl aber dem methodischen Zugang verschließt. Die Präsentation dieser

Bilder heißt hier rhapsodische Theorie. Sie dient dem Zweck, das in diesem Aufsatz theoretisch nicht mehr zu Vermittelnde, die Utopie des einzelnen, zu versinnlichen, ohne sie zu versinnbildlichen: literarische Bilder, die keine Ikonen sind, sondern Einzelexemplare, denen die Gattung fehlt.

 

II.

 

"Denn es kann doch keiner ein Rhapsode sein, wenn er nicht versteht,

was der Dichter meint." (Plato, Ion)

 

In Tagträumen webt sich nach dem bekannten psychologischen Muster für jeden einzelnen die ganz persönliche Utopie. Natürlich der 6er im Lotto und im Bett mit aller Unabhängigkeit, die beides erhoffen läßt; natürlich die glückliche, gesunde Familie im Eigenheim oder die harmonische Wohngemeinschaft auf dem Lande; natürlich auch Macht und Prestige, mit denen die bürgerliche wie die sozialistische Gesellschaft ihre Tüchtigsten ausstattet. Die institutionalisierten Wünsche erschöpfen die Möglichkeiten der Phantasie, ein System von Wunschmaschinen macht sich in der Leerstelle des Zukünftigen breit, von der Realität wird das im Märchen noch mit Glück und Tapferkeit Erreichbare ausgerichtet zur stabilen Allianz des Hoffenden mit seinen Wünschen gegen die Hoffnung selbst. Da kulminieren die Märchen in einer Kritik an ihrem eigenen Versprechen und verwünschen nicht nur das Enttäuschende in der Erfüllung, sondern lassen auch schon etwas Bedrohliches über der eingeschränkten Freiheit des Wünschens heraufziehen. Es geht um die Wurst: Zwei haben drei Wünsche frei. Sie wünscht sich die Wurst, er sie ihr, ob der vertanen ersten Möglichkeit, an die Nase, und damit ist auch schon der dritte Wunsch von der inneren Logik des Alltäglichen eingefangen. Vielleicht ist die Frage scholastisch, ob man den Beteiligten hätte raten sollen, gleich mit dem ersten Wunsch die Erfüllung aller zukünftigen Wünsche sicherzustellen oder sich das Paradoxe zu erbitten, nie mit offenen Wünschen konfrontiert worden zu sein. Beide Varianten, die das Märchen zu etwas Utopischem zu öffnen scheinen, nähmen seinen Protagonisten ihre Individualität, nämlich eine eigene Vergangenheit oder Zukunft haben zu können.

Wenn sich konkrete, bildhaft darstellbare Utopien nur aus unmittelbar subjektiven Wünschen zusammensetzen, dann teilen sie mit diesen das Schicksal, wie ein bunter Warenkatalog für Ideale restlos konsumiert zu werden und das Moment des Offenen allein in der beliebigen Reproduzierbarkeit ihrer Objekte zuzulassen. Bereits der jeweils nächste, von Hedwig Courths-Mahler nach dem glücklichen Ende ihrer endlos wiederholbaren Illusionsromane eben nicht mehr geschriebene Satz müßte die Desillusionierung des zuvor zart gestifteten Glücks zum Thema haben: wunschloses Unglück. Wünsche wollen zwar hoch hinaus, aber sie wollen nie genug, so als fürchteten sie weniger die in ihrer Finalität bereits vorgezeichnete Endlichkeit der Erfüllung als vielmehr die Strafe der Götter für Hybris. Der abstrakteste, nur in der Hybris der Philosophie zu formulierende Wunsch ist der, die Triebenergie des Wünschens möge sich nicht in der Begehrlichkeit des Profanen erschöpfen, sondern Utopisches ahnen lassen. Was aber bedeutet es, philosophisch über Utopie nachzudenken, wo doch die Philosophie im Scherbengericht über sich selbst ihre tönernen, zerbrochenen Begriffe und Kategorien auf den Trümmerhaufen der Ideengeschichte geworfen hat und sich selbst zum ou topos geworden ist? In der geistigen Erfahrung derer, die für Antworten auf solche Fragen überhaupt noch offen sind, teilt sich das Scheitern des rein begrifflichen Zugangs zur Welt mit als Verlust eines genuin philosophischen Gegenstandsbereichs und zugleich als die Unmöglichkeit einer in System oder Kanon verfügbaren Philosophie. »Wird ihr (der geistigen Erfahrung) ein Standpunkt abverlangt, dann wäre er der des Essers zum Braten. Sie lebt von ihm, indem sie ihn aufzehrt: erst wenn er unterginge in ihr, wäre das Philosophie« (Adorno). Dieses negative Verhältnis von geistiger Erfahrung und der Möglichkeit, die Bedeutung von Utopie für das Denken auszudrücken, liegt allen Bildern in diesem Abschnitt zugrunde. Sie verschwenden ihre metaphorische Kraft nicht an das Allgemeine, sondern durchbrechen es im sinnlichen Aufscheinen ihrer eigenen, nur noch dem einzelnen verpflichteten Idee.

Das Verschmelzen von begrifflich-philosophischem Denken und künstlerischer Anschauung in einer rhapsodischen Theorie stiftet keine neue, den Bildern äußerliche Einheit von Begriff und Anschauung, sondern läßt beide in der inneren Plausbilität der Bilder aufgehen. Sie vereinigen sich darin nicht, sondern verzehren sich in ihrer Negativität. Adorno bezeichnet dies in seiner Ästhetischen Theorie als Aporie der Ästhetik insgesamt. Ernst Jandl veranschaulicht diese negative Synthese blasphemisch spöttisch im Aberwitz seiner Sprache:

zweierlei handzeichen

 

ich bekreuzige mich

vor jeder kirche

ich bezwetschkige mich

vor jedem obstgarten

 

wie ich ersteres tue

weiß jeder katholik

wie ich letzteres tue

ich allein

 

Kant, der Ernste, durfte für die Philosophie noch verbindlich feststellen, daß Begriffe ohne Anschauung leer, Anschauungen ohne Begriffe blind seien. Eine Bezwetschkigung dürfte selbst dem transzendentalen Subjekt Schwierigkeiten bereiten. Ernst Jandl stellt in der Spannung zwischen einzelnem und Institution durch einen leeren Begriff und eine blinde Anschauung eine Plausbilität eigener Art her, die in ihrer radikalen Kritik an der Institutionalisierung ironisch Möglichkeiten des einzelnen erkennen läßt, ohne ihn jedoch positiv zu hypostasieren. Solche Plausbilität aufzuspüren, verspricht einen besonderen Reiz, von dem allerdings nicht mit letzter Sicherheit behauptet werden kann, daß er geistige Fähigkeiten mobilisiert, die sich auch im praktischen Leben bewähren.

1.Rat Krespel

" ,Hier soll das Fundament meines Hauses gelegt werden, und dann bitte ich, die vier Mauern so lange heraufzuführen, bis ich sage, nun ist‘s hoch genug.‘- ,Ohne Fenster und Türen, ohne Quermauern?‘ fiel der Meister, wie über Krespels Wahnsinn erschrocken, ein. ,So wie ich es ihnen sage, bester Mann‘, erwiderte Krespel sehr ruhig, ,das ührige wird sich alles finden.‘ Nur das Versprechen reicher Belohnung konnte den Meister bewegen, den unsinnigen Bau zu unternehmen; aber nie ist einer lustiger geführt worden, denn unter beständigem Lachen der Arbeiter, die die Arbeitsstätte nie verließen, da es Speis und Trank vollauf gab, stiegen die vier Mauern unglaublich schnell in die Höhe, bis eines Tages Krespel rief: ,Halt!‘ Da schwieg Kell‘ und Hammer, die Arbeiter stiegen von den Gerüsten herab, und indem sie den Krespel im Kreise umgaben, sprach es aus jedem lachenden Gesicht: ,Aber wie nun weiter?‘ - ,Platz!‘ rief Krespel, lief nach einem Ende des Gartens und schritt dann langsam auf sein Viereck los, dicht an der Mauer schüttelte er unwillig den Kopf, lief nach dem anderen Ende des Gartens, schritt wieder auf das Viereck los und machte es wie zuvor. Noch einige Male wiederholte er das Spiel, bis er endlich, mit der spitzen Nase hart an die Mauern anlaufend, laut schrie: ,Heran, heran, ihr Leute, schlagt mir die Tür ein, hier schlagt mir eine Tür ein !‘ - Er gab Länge und Breite genau nach Fuß und Zoll an, und es geschah, wie er geboten. Nun schritt er hinein in das Haus und lächelte wohlgefällig, als der Meister bemerkte, die Mauern hätten gerade die Höhe eines tüchtigen zweistöckigen Hauses. Krespel ging in dem innern Raum bedächtig auf und ab, hinter ihm her die Maurer mit Hammer und Hacke, und sowie er rief: ,Hier ein Fenster, sechs Fuß hoch, vier Fuß breit! - dort ein Fenster, drei Fuß hoch, zwei Fuß breit!‘, so wurde es flugs eingeschlagen. Gerade während dieser Operation kam ich nach H-, und es war höchst ergötzlich anzusehen, wie Hunderte von Menschen um den Garten herumstanden und allemal laut aufjubelten, wenn die Steine herausflogen und wieder ein neues Fenster entstand, da, wo man es gar nicht vermutet hatte."

Ganz offensichtlich verstößt hier einer gegen die fundamentalsten Regeln der Architektur, blamieren seine Helfer die ganze Innung, und selbstverständlich hätte bei einer so dreisten Ordnungswidrigkeit nicht erst im 20. Jahrhundert der Ruf nach der Baupolizei laut werden müssen. Man darf sogar vermuten, daß der Rat Krespel nicht nur wegen der kulinarischen Begleitumstände beim Bau seines Hauses an diesem nicht viel Freude gehabt hätte, sondern eher in einem von der öffentlichen Hand erstellten und unterhaltenen kaserniert worden wäre, hätte er sich nicht der Protektion seines Landesherrn erfreut. Damit wäre das Problem von Innen und Außen, das E. T. A. Hoffmann hier so schillernd einführt, seiner zeitgemäßen Lösung zugeführt worden.

Was ist das für eine Unvernunft? Fast scheint es, als sollte ein Kerker oder eine fensterlose Monade entstehen, als sollte die komplexe Formenvielfalt der Architektur auf das einfachste ihrer Ordnungsprinzipien reduziert werden. In dieses steingewordene monadische Prinzip dringt der Krespel von außen durch die Tür - comme il faut - ein, um es dann von innen her durch Fenster aufzubrechen. Von außen lächerlich, weil die Fassade jeder hergebrachten Ordnungsvorstellung Hohn spricht, wird Krespels Kubus im Inneren zur Materialisierung eines subjektiven Ideals, das sich an seinem Augenmaß, seinen Bedürfnissen orientiert und auf Besucher später den Eindruck »einer ganz eigenen Wohlbehaglichkeit« machte.

Die Neuerung der Baukunst durch den Rat hat hier nichts Exemplarisches oder Programmatisches, kein Musterhaus entsteht; Krespels Losgehen auf die Mauern ist Kritik an der Institutionalisierung des Alten. Das in dieser Kritik dennoch aufscheinende Moment von Autonomie entzieht sich, wie alles Neue, dem klassifizierenden Zugriff der sachverständigen Zuschauer. Hier wird weder für das gläubige Mitmachen geworben, noch auf die Begeisterung für Alternativen spekuliert. Entweder man traut der subjektiven Wahrheit des Krespel von Anfang an oder erfährt das zum Skandalon gewordene Neue in der Einheit von Erkennen und Empfinden als die Plausibilität einer eigenständigen Ratio, die in ihrer Authentizität für sich selbst spricht. Etwas derart Unerhörtes zu unternehmen, ohne von den in einem Über-Ich imperativ gewordenen Ordnungsvorstellungen gegängelt zu sein - gerät man damit nicht bereits in den Bereich, in den von selbstverliebter Normalität der Wahnsinn gebannt wird? »Guter Gott! Da will die Eule die jungen Adler aus dem Neste jagen, will ihnen den Weg zur Sonne weisen!« (Hyperion)

Was hat dieser RK mit Theorie und Praxis oder gar deren Verhältnis zueinander zu schaffen? Erhofft er sich etwas von der einen für die andere? Das hieße, daß Hoffnung in ihm selbst sich zum Gegenstand würde, denn sie ist ja der verzweifelte Versuch, von der vernünftigen Theorie zur rationalen Praxis eine Brücke im Irrationalen zu schlagen, die weder als Prinzip der Theorie noch als kreatives Moment der Praxis angehören soll. Das Instrument Hoffnung, das den Bruch zwischen Theorie und Praxis kitten soll, wird nicht zum Motiv für Krespels Aktivitäten. Zur Pädagogik der Weltgeschichte trägt er nichts bei. Wenn von ihm gesagt wird: »Was bei uns Gedanke bleibt, wird dem Krespel alles zur Tat«, dann hat er das Theorie-Praxis-Problem gegen die Geschichte zur Authentizität des einzelnen hin überwunden; ähnlich wie Hölderlins Hyperion, der Authentizität allerdings nur im Leiden zu bewahren vermag:

»0 hätt ich doch nie gehandelt! um wie manche Hoffnung wär ich reicher!« Authentizität erhält sich entweder in grenzenloser Hoffnung oder in der nicht finalen, sondern sich selbst transzendierenden Tat. Sie kennt keine andere als die Hoffnung, bei sich zu sein. Sie erzeugt keine Hoffnung und keine führt zu ihr hin.

Kann man einen, dem die sich transzendierende Tat mehr bedeutet als die Hoffnung und ihre Ziele, dazu bewegen, seiner Verantwortung für Menschheit und Weltgeschichte sich bewußt zu werden? Immerhin hatte Krespel eine Tochter, lebte im Widerspruch von Aufklärung und Absolutismus und diente seinem Staat. Warum baute er sein kurioses Haus, warum zerlegte er Geigen von Meisterhand, um das Geheimnis ihres Klanges zu ergründen, anstatt zweckrational gestaltend in das innere Gefüge der Geschichte einzugreifen? Es wäre nur billig, ihn einen Volksfeind, Klassenfeind, Misanthrop, vielleicht sogar einen miesen Tropf zu schimpfen. Weit mehr! Man wirft ihm vor, er sei der Mörder seiner Tochter. Krespel:

»Junger Mensch! du magst mich für närrisch, für wahnsinnig halten, das verzeihe ich dir, da wir beide in demselben Irrenhause eingesperrt sind, und du mich darüber, daß ich Gott der Vater zu sein wähne, nur deshalb schiltst, weil du dich für Gott den Sohn hältst... «

Der echte Crespel war Goethes Jugendfreund, Katholik, Zyniker und Jesuitenschüler, von dem die Frau Rat Goethe zu berichten wußte: »Crespel ist ein Bauer geworden, hat in Laubach Güter gekauft das heißt etliche Baumstücke - baut auf dieselbe ein Hauß nach eigner Invenstion hat aber in dem kickelsort weder Mauerer noch Zimmerleute, weder Schreiner - noch Glaßer - das ist er nun alles selbst - es wird ein Hauß werden - wie seine Hoßen, die er auch selbst fabricirt -.«

 

2.Phileas Fogg

"Aber Phileas Fogg hatte noch eine Frage: "Jetzt gehört das Schiff also mir?" "Klar! Alles, was aus Holz ist: vom Kiel bis zu den Mastipitzen!" "Recht so. Und nun: Schlagt die hölzernen Einrichtungen der Kajüten zusammen und heizt damit ein!" Es läßt sich denken, wie viel von diesem trockenen Holz verfeuert werden mußte, bis der nötige Dampf erreicht war! Am gleichen Tage noch wurden die Kajüten, die Mannschaftsräume, die Kabinen, die übrigen Unterkünfte und die Hilfsbrücke zu Dampf gemacht. Tags drauf, am 19. Dezember, verbrannten sie die Masten, die Rahen, die Sparren. Die Masten wurden gekappt und in kleine Stücke zerhackt. Die Besatzung erwies sich bei diesem Zerstörungswerk erstaunlich fleißig. Passepartout zerschlug, zerschnitt, zersägte, und leistete ganz allgemein die Arbeit von zehn Männern. Man feierte eine Orgie der Zerstörung. Und am nächsten Tag kamen die Reling, die Schanzverkleidung, der größte Teil des Decks dran. Die Henrietta war jetzt bloß noch ein plattees Wasserfahrzeug und glich einem Ponton. Aber an jenem Tage kam dafür die Küste von Irland in Sicht."

Wird hier orgiastisch der Überbau des alten Staatsschiffs abgeholzt und im Feuer der Revolution verheizt? Oder steuert die Maschine Fortschritt angetrieben von allem, was in ihr nur zu verwerten ist, auf die ökologische Katastrophe zu? Phileas Foggs Brandopfer wird weder einer konkreten Spekulation auf zukünftiges Heil erbracht noch spielt es sich im Rahmen des Kalküls einer instrumentalisierbaren Prognose ab: er hofft nicht auf den Appetit und sorgt sich nicht wegen der Gefräßigkeit der Maschine. Sein Opfer ist von einer radikalen Gegenwärtigkeit, ein Potlatsch an die Götter, Verschwendung im Batailleschen Sinne. Es ist kein Selbstzweck, hat aber als Mittel auch kein verselbständigtes, institutionalisierbares Ziel als die Möglichkeit eines englischen Gentlemans, in 8o Tagen von London nach London zu gelangen. Indem dieses Feuerwerk nur die Station einer Kreisbewegung darstellt, in der alle anderen Stationen der Weltumrundung ihren Sinn riskieren, leuchtet mit dieser Illumination allein das irrationale und zugleich rationale Motiv der Wette auf: Gewinn als Triumph des Möglichen über das Wahrscheinliche.

Phileas Fogg benutzt die Handelswege des Kolonialismus. Seine beim Kartenspiel gewonnene und als Fortsetzung des Spiels unmittelbar in die Tat umgesetzte Idee, die Erde in 8o Tagen zu umrunden, verliert sich aber keineswegs in der Absicht, der forcierten und universell gewordenen Warenzirkulation ein lebendes Denkmal zu setzen. Foggs Reise beruht auf einem Mißverständnis. Er bezieht die Selbstdarstellung des Imperialismus als geschlossenes System nicht auf die Allmacht des Kapitals, sondern auf die Möglichkeiten des Subjekts. Wo es für seine Mitspieler schon ausgemachte Sache ist, daß die weltumspannende Gesamtheit aller Fahrpläne ein hermetisches System bildet, dessen abstraktes Zeitmaß 8o Tage beträgt, und nur die Frage offen bleibt, ob es in dieser »kleiner gewordenen Welt« noch Zufluchtsorte gibt, da hat der Fogg diese anonyme Totalität der Warenzirkulation bereits überwunden und sucht ihre Wahrheit in der Erfahrung des Subjekts. Da aber die Wahrheit des Systems in der Negation des Subjekts besteht, kann sie nicht positiv in der Einheit von Handeln und Erkennen widerscheinen. Nur die Erfahrung, die einzelnen Teilstücke dieses weltumspannenden Systems als glücklicher Krisenmanager zu koordinieren, gibt Fogg die Illusion, Subjekt seiner Reise zu sein. Dieses produktive Mißverständnis löst sich in der Euphorie der Destruktion auf, als Foggs praktische und spekulative Fähigkeiten hinter der Illusion zurückbleiben, die Eigengesetzlichkeiten des Systems seien der Verfügbarkeit und Beherrschbarkeit durch den einzelnen unterworfen. Im Verfeuern aller Accessoires der Segelschiffromantik wird das System auf sein Wesen reduziert, platter Träger einer Antriebskraft zu sein, und Fogg antizipiert im Einbekenntnis seiner Niederlage einen möglichen Sieg: Die Last der Verantwortung des einzelnen für das Funktionieren des Systems weicht euphorischer Erleichterung.

Einem anderen Weltenreisenden, dem listenreichen Odysseus, kann diese Befreiung des Denkens von seinen rein reaktiven Reflexen auf das Schicksal nicht gelingen. Ihm bleibt der titanische Versuch verwehrt, sich an die Stelle der Götter zu setzen, Subjekt der mythischen Totalität, moira, zu werden, denn sein Denken erkennt in der Irrfahrt nicht die Abbildung seiner Begrenztheit und sein Schiff trägt kein Kraftwerk, das Natur gegen Natur verfügbar machen könnte. Wie sich die Kreativität des Odysseus an immer neuen Abenteuern entwickelt und bewährt, ohne eine Vorstellung vom Ganzen hervorzubringen, so bleibt auch der Diener Phileas Foggs, Passepartout, in die Abwehr des bloß Zufälligen verstrickt, gewinnt aber keinen Einblick in die innere Mechanik des Systems. Fogg dagegen darf in seinem produktiven Mißverständnis auf die Tauglichkeit seiner Mittel, instrumentelle und spekulative Vernunft, vertrauen, weil diese in die Rationalität des Systems eingebettet und aus ihr definiert sind. In der Rückwärtsbewegung der Idee gegen die materialisierte Totalität sind beide noch enthalten, heben sich aber in ihrer Synthese gegenseitig auf, ohne daß eine neue Qualität des Denkens entstehen würde. Die nur als Möglichkeit aufscheinende Einheit erzeugt und verbraucht sich in der Euphorie. »Wie unvermögend ist doch der gutwilligste Fleiß der Menschen gegen die Allmacht der ungeteilten Begeisterung.« (Hyperion)

3. Der furchtbare Gast

"Als ich diese Betrachtungen anstellte, hatte ich mich in eine Nische vor einen steinernen Crispinus gestellt, der eben einen solchen grauen Mantel trug als ich. Da bewegte sich plötzlich eine weibliche und eine männliche Gestalt dicht vor mir und lehnten sich fast an mich, weil sie mich für den Blind- und Taubstummen von Stein hielten. Der Mann ließ es sich recht angelegen sein im rhetorischen Bombast und sprach in einem Atem von Liebe und Treue; das Frauenbild dagegen zweifelte gläubig und machte viel künstlichen Händeringens. Jetzt berief sich der Mann kecklich auf mich und schwur, er stehe unwandelbar und unbeweglich wie das Standbild. Da wachte der Satyr in mir auf, und als jener die Hand gleichsam zur Beteuerung auf meinen Mantel legte, schüttelte ich mich boshaft ein wenig, worüber beide erstaunten; doch der Liebhaber nahm‘s auf die leichte Achsel und meinte, der Quader unter dem Standbild habe sich gesenkt, wodurch es das Gleichgewicht etwas verloren. Er verschwur jetzt nacheinander in zehn Charaktern aus den neuesten Dramen und Tragödien seine Seele, wenn er jemals treulos; zuletzt redete er gar noch in der Manier des Don Juan, dem er diesen Abend beigewohnt hatte, und schloß mit den bedeutenden Worten: ,Dieser Stein soll als furchtbarer Gast erscheinen bei unserem nächtlichen Mahle, meine ich es nicht redlich.‘"

(Die Nacbtwachen des Bonaventura)

Es ist gewiß unfein, Liebende zu belauschen: Der Intensität ihrer Gefühle sind die Mittel der Sprache so wenig angemessen, daß dem ungebetenen Dritten über der Disparatheit von tiefer Empfindung und hohlem Pathos der Spott nicht ausbleiben kann. Der Liebesschwur ignoriert den Verfall so hehrer, aber aus ihrer Verbindlichkeit gelöster Ideale wie des Ganzen,

Wahren, Schönen, Guten und Ewigen und setzt sie hic et nunc für die Utopie der Liebe wieder in ihr Recht ein. Je heftiger einer mit seiner Schwurhand in Liebeshändeln herumzufummeln versteht, desto sturer geben sich seine Vorsätze, desto starrer die Ideale des Klassischen, Versteinerten, denen er die Unverbrüchlichkeit seiner Treue, Redlichkeit etc. entlehnt. Die Öffentlichkeit der Zweiergemeinde läßt zwar in der Wonne des ewigen Augenblicks das Lügen bis zum Steinerweichen zu, ihr kann aber nichts Schlimmeres widerfahren, als daß ihr die entlehnte Heiligkeit in Form einer dritten Person leibhaftig entgegentritt. Was von außen wie eine Glorifizierung mittels musealer Versatzstücke des Ideenhimmels erscheinen mag, wird im Inneren als einmaliger, sich historischer Erkenntnis widersetzender Fall von Methexis registriert.

Durch die euphorisierende Wirkung ihres Versprechens setzen sich die Utopie der Liebe und die programmatischen Utopien gegen Zeitlichkeit und Institutionalisierung zur Wehr. Die Verwandtschaft zwischen beiden ist so eng, daß man vermuten könnte, die meisten konkreten Utopien seien aus den Tag- und Nachtträumen der (unglücklichen) Liebe gewoben. Der Verliebte aber wird ebensowenig wie der dem Utopischen Verschworene gelten lassen, daß hierbei lediglich die Mitgliederzahl der Gemeinde über die Fallhöhe der Ideale entscheidet: Je größer die Zahl, desto irdischer das Ideal. Wo das Glück nur für zwei reichen soll, ersetzt konkretes sinnliches Wohlgefallen aneinander, was das höchste Ideal nicht gewähren kann, wohl aber verheißen muß, weil auch die Sinnlichkeit ihr Versprechen nicht immer hält. Das Glück der Vielen dagegen, in dessen Konzept das Private bereits eingegangen ist und den absoluten Anspruch der Zweiergemeinde eingebüßt hat, gestaltet sich in den programmatischen Utopien pragmatischer. In ihrem Begriff der Öffentlichkeit schwingt ein Verdikt gegen Intimität mit.

Der furchtbare Gast, der in diesem Bild die Intimität der Zweisamkeit aufhebt, ist mehr als nur Subjekt der Erzählung. In ihm materialisiert sich alles, was von dem Verliebten bei seiner hermeneutischen Beschwörung des Klassischen zum Zwecke der Betörung ins Feld geführt wurde, und nimmt menschliche Gestalt an. Als Inkarnation der Garantien für die Echtheit und Eigentlichkeit dieser Liebe tritt er den Liebenden bald darauf entgegen:

»Daß die Stummen zu reden anfangen, meinen sie? Das fließt aus der Frivolität des Zeitalters. Man sollte nie den Teufel an die Wand malen. Unsere jungen Herren von Welt setzen sich aber darüber hinaus und mißbrauchen dergleichen bei schwachen Seelen, um sich von der heroischen Seite zu zeigen.« Desillusioniert, ertappt, ans Licht gezerrt, entpuppt sich die beschworene Utopie der Liebe als Possenspiel. Die Treue, auf die alles Wahre und Echte, in diesem Falle delikaterweise ein Ehebruch, gestützt wird und die so als Vorgabe zur Sicherung der Autonomie der Liebe dient, erweist sich als heteronomes Produkt von Uberredung und Schmeichelei. Was benenn- und fühlbare Substanz der Liebe schien, wird akzidenteller Plunder. Die Subjekte der Emotionen finden sich als Objekte wieder. Die Substanz der Seele verliert ein wenig von ihrer Festigkeit: Die beiden Subjekte der Liebe »sinken in Ohnmacht«.

Was erwartet sie, wenn sie aufwachen? Das anarchische Moment der Sinnlichkeit geht weder in der Sublimierung auf, noch läßt es sich durch die Kritik an den in diese kunstvolle Kathedrale eingefügten Idealen aus der Welt schaffen. Und das ist auch gut so. Dieses Moment der Kreativität entzieht sich zwar der Benennung und wird deshalb manchmal vergessen oder mißachtet; wenn es aber in der wechselseitigen Durchdringung von sinnlichen Ausdrucks- und Erlebnismöglichkeiten des einzelnen aufscheint und zum Movens seines Denkens wird, ohne sich darin zu verlieren, dann dürfte es dem einzelnen schwerfallen, sich dem Charme des schwermütig heiteren Orakels der Garance zu verschließen: »Die Liebe ist doch so einfach.«

4. Fabian

,,Plötzlich sah er, daß ein kleiner Junge auf dem steinernen Brückengeländer balancierte. Fabian beschleunigte seine Schritte. Er rannte. Da schwankte der Junge, stieß einen gellenden Schrei aus, sank in die Knie, warf die Arme in die Luft und stürzte vom Geländer hinunter in den Fluß. Ein paar Passanten, die den Schrei gehört hatten, drehten sich um. Fabian beugte sich über das breite Geländer. Er sah den Kopf des Kindes und die Hände, die das Wasser schlugen. Da zog er die Jacke aus und sprang, das Kind zu retten, hinterher. Zwei Straßenbahnen blieben stehen. Die Fahrgäste kletterten aus den Wagen und beobachteten, was geschah. Am Ufer rannten aufgeregte Leute hin und wider. Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer. Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen."

Die Ethik ist eine gemeingefährliche Wissenschaft. Ihr Opfer Fabian ist dem tödlichen Irrtum erlegen, daß alle Menschen auf der Welt seien, um gerettet zu werden. Dieser Fabian, Nichtschwimmer und Moralist, entscheidet sich dafür, ein guter Mensch zu sein. Das ist fatal, da er vom Sog der Allgemeinheit des ethischen Postulats übers Brückengeländer gerissen wird. Wäre ihm das auch als Schüler Immanuel Kants zugestoßen, ausgestattet mit dem Redam-Band Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in der linken oder rechten Jackentasche? Hätte er da nicht folgende Passagen nachschlagen müssen: »Es ist überall nichts in der Welt, ja auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« Und: »Dagegen sein Leben zu erhalten ist Pflicht, und überdem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung.« Nun, zunächst hätte es einen ganz besonderen kulinarischen Reiz gehabt, in einer so ernsten Situation die einschlägigen Schriften Kants heranzuziehen, und überdies wäre dem Jungen inzwischen auch Zeit geblieben, das Problem durch die Ankunft am rettenden Ufer praktisch zu lösen. Im übrigen hätte Kant vom Sprung abgeraten. Natürlich ist es wünschenswert, daß etwas geschieht, daß das Böse, das zufällige Übel und die Mißstände wie die Mißverständnisse aus der Welt expediert werden, aber der Umschlag des abstrakten Postulats in die Tat setzt ja beides aufs Spiel: ethische Theorie und moralische Praxis. Beide berühren sich zwar im einzelnen, aber für die Verhandlung zwischen Theorie und Praxis spielt der einzelne keine Rolle. Beide travestieren ihn im Einverständnis, daß es um die Errichtung von Institutionen geht, und sei es die der Moral.

Verantwortung und Integrität werden vom einzelnen entweder zur Aufrechterhaltung des Systems oder zu seiner Destruktion verlangt, was ihn dazu zwingt, öffentlich Wasser zu predigen und heimlich Wein, manchmal auch Bier und Schnaps, zu trinken. »Wenn die Philosophie unter anderem auch daran dächte, daß es einem Menschen einfallen könnte, nach ihrer Lehre handeln zu wollen, dann würde man eine sonderbare Komödie daraus bekommen. Eine Ethik, die die Sünde ignoriert, ist eine gänzlich nutzlose Wissenschaft, aber macht sie die Sünde geltend, dann ist sie eo ipso über sich selbst hinaus« (Kiergegaard). Keine Minima Moralia können darüber hinweg helfen, daß im moralischen Anspruch immer das Maximum an persönlicher Selbstverleugnung gefordert wird. Die Unterwerfung des einzelnen unter die adaequatio rei et intellectus, zwischen gegenwärtigem Ideal oder zukünftigem Ziel und seinem moralisch gefestigten Willen, läßt ihn zum Seiltänzer werden, der, schwankt er zur Notwendigkeit oder zur Beliebigkeit hin, stürzen wird. Welcher Unterschied besteht da noch zwischen Fatalismus und Zynismus, diesen beiden Abarten einer ästhetisch indifferenten Selbstverachtung des Subjekts? Hält er aber die Balance, wer schützt ihn davor, daß sich die Truppe oder das Publikum gelangweilt oder verärgert abwendet und der gute Wille, da doch die Ziele und Ideale nicht der Ästhetik des einzelnen folgen, sondern der Geschichte überantwortet sind, in bösen umschlägt - was übrigens auch zurückschlagen kann -?

Fabian stirbt an der Moral, die Pädagogik aber lebt von ihr. Die Moral überzeugt nicht, sie überrennt. Auf der Strecke bleibt der einzelne. Die Pädagogik hätte ihm das gleiche, nur mit dem Versprechen von Liebe, Solidarität und Geduld, auch angetan. Aber nichts wird uns den Fabian zurückbringen, denn die Moral hat ihre eigene Didaktik. Sie täuscht in Vorbild und Maxime Entwicklung und Besserung vor und stellt doch den einzelnen unerbittlich unter Kuratel, während sie sich als Pädagogik verbindlicher gibt: »Es ist erfreulich, wenn gleiches sich zu gleichem gesellt, aber es ist göttlich, wenn ein großer Mensch die kleineren zu sich aufzieht.« (Hyperion)

Da hinten, sagt man den moralisch noch Kleinwüchsigen, in der Zukunft,

wohnen die freundlichen Riesen, die dich mögen werden, gehst du nur stracks auf sie zu. Viele Abenteuer mit Krüppeln und Dämonen müssen noch bestanden werden, aber es ist schön, nach überwundener Gefahr ein ganzer Kerl zu sein und, von den großen Brüdern umarmt, seinen Meldezettel aus der Zwergenschule endlich abgeben zu dürfen, auf dem zu lesen steht: Ich möchte ein solcher werden, wie mein Lehrer gerne einer geworden wäre. Die gute Tat folgt aus der guten Absicht, und die beste aller Absichten ist es, Lernziele für andere, ja für die ganze Nation vorzuschreiben. Die Moral als Pedell der didaktisch aufbereiteten Revolution der Denkungsart wird schon dafür sorgen, daß keiner onaniert und dem Assessor des Weltgeistes nasse Schwämme auf den Stuhl legt. »Das ist der Gewinn, den uns Erfahrung gibt, daß wir nichts Treffliches uns denken, ohne sein ungestaltes Gegenteil.« Auch das sagt Hyperion. Abba aber sagt:

»People need hope, people need loving, people need trust from a fellow man.« Eine solche Moral ist viel wert. Millionen!

Wenn man Kants kategorischen Imperativ - »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« -, wohl die größte und desillusionierendste Formulierung der ethischen Antinomie, nicht auf die Gattung, sondern auf den einzelnen bezieht, dann müßte er etwa so lauten: Es ist eine Schweinerei, moralische Grundsätze aufzustellen, eine noch größere aber, unmoralisch zu handeln. Der Autor des Fabian hat das etwas sublimer formuliert. In eigener Sache vernommen, äußert Herr Kästner: »Sie wollen, daß jeder Bürger seine Hoffnungen im Topf hat. Und je leichter diese Hoffnungen wiegen, um so mehr suchen sie, ihm davon zu liefern. Und weil ihnen nichts mehr einfällt, was, wenn die Leute daran herumkochen, Boullion gibt, und weil ihnen das, was ihnen früher einfiel, von der Mehrheit längst auf den Misthaufen der Geschichte geworfen wurde, fragen sich die Sittenrichter: Wozu haben wir die Angestellten der Phantasie, die Schriftsteller? Der Autor erwidert hierauf: Ich bin ein Moralist ! «

 

III.

 

"Nichts beweist mehr gegen eine Theorie als ihre Durchführbarkeit."

(Karl Kraus)

 

Der alte philosophische Dualismus von Ideen und Wirklichkeit stellt sich im Rahmen dieser theoretischen Erörterung und der Bilder dar als der von Möglichkeit und institutionalisierter Realität. Er wird an Geschichte, zumal als Geschichte der Entmythologisierung, in Form der Totalisierung des Geschlossenen sichtbar.

Für diesen >Prozeß< stellt sich die Frage, ob er die Möglichkeiten trotz ihrer

Verwertung unangetastet läßt, etwa den platonischen Ideen vergleichbar, oder ob sie sich in ihm aufzehren, verbraucht werden.

Einerseits könnte die Einsicht, daß die Geschichte der Institutionalisierung diesem Prinzip der Transformation von Offenem in Geschlossenes unterliegt, allererst den Blick freigeben auf die Notwendigkeit der Kritik an Verfestigung als Wesen ihrer Dynamik. Die Selbstvollendung der Aufklärung im System enthielte ein Moment der Hoffnung: Utopie bewahrt sich in der treibenden Kraft für die Kritik an der Hermetik. Die programmatischen Utopien in der Geschichte wären immer neue, vollkommenere Formen des Geschlossenseins.

Andererseits wäre es aber auch möglich, daß die historischen Möglichkeiten in der Realität aufgegangen sind und dadurch das Stigma des Kraftlosen, Antiquierten angenommen haben, so daß die Realität als abgeriegeltes Totum die Möglichkeit des Möglichen selbst bedroht, auch wenn ihr ein Moment der Zeitlosigkeit zukommt: Das Ende der Ontologie. Utopie hat ihren Ort zwar nicht in der Vergangenheit, sie wäre aber nur in ihr möglich und denkbar gewesen.

 


 

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Kursbuch 63

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